Der unsichtbare Lehrplan von John Taylor Gatto

Der unsichtbare Lehrplan von John Taylor Gatto

John Taylor Gatto (1935 -2018) war ein US-amerikanischer Lehrer, der mehrfach als Lehrer des Jahres im Staat New York ausgezeichnet wurde. Zur Preisverleihung 1991 hielt er eine Rede, in der er den „unsichtbaren Lehrplan“ des Regelschulsystems skizziert. Die folgenden Texte sind Auszüge aus dieser Rede, die in seinem Buch „Verdummt nochmal: der unsichtbare Lehrplan“ enthalten ist. 

Das erste Fach: Verwirrung 

Alles, was ich lehre ist aus dem Zusammenhang gerissen. Ich unterrichte die Beziehungslosigkeit von allem. Ein genauer Blick auf den Lehrplan und seine Abfolgen zeigt einen Mangel an Zusammenhang und eine Vielzahl innerer Widersprüche. Die Logik des Schulgeistes besagt, dass es besser ist, die Schule mit einem Werkzeugkasten oberflächlicher Begriffe aus den Bereichen Wirtschaft, Soziologie, Naturwissenschaft und so weiter zu verlassen, als mit einer einzigen echten Begeisterung. Aber eine wirklich qualitativ hochwertige Bildung bedeutet, etwas in der Tiefe zu erforschen. Denken Sie an die großen Abläufe der Natur – Laufen und Sprechen lernen, die Wanderung des Lichts von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang; die tradierten Abläufe auf einem Bauernhof, in einer Schmiede oder beim Schuhmacher, oder die Vorbereitung eines Erntedankfestes. Alle Teile stehen in vollkommener Harmonie zueinander, jede Handlung hat ihre Rechtfertigung in sich selbst und beleuchtet Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen. Schulinhalte sind nicht so, nicht innerhalb einer einzelnen Unterrichtsstunde und schon gar nicht im Gesamtmenü des täglichen Stundenplans. Schulinhalte sind verrückt. Schulstoff wird, wenn er überhaupt gelernt werden kann, so gelernt, wie Kinder die Zehn Gebote lernen. 


Das zweite Fach: Gesellschaftliche Schichtung

Ich lehre, dass die Schüler auf dem ihnen zugewiesenen Schulniveau bleiben müssen. Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass es den Kindern gefällt, mit Kindern gleichen Niveaus zusammengesperrt zu werden oder dass sie es zumindest widerspruchslos erdulden. Wenn ich meine Sache gut mache, können die Kinder sich nicht einmal vorstellen, anderswo zu sein, denn ich habe ihnen beigebracht, die höheren Lernniveaus zu beneiden und ihnen mit Ehrfurcht zu begegnen, auf die darunter liegenden Niveaus dagegen mit Verachtung herabzublicken. Durch diese wirksame Disziplinierungsmethode bringt sich die Klasse überwiegend selbst in eine gute Marschordnung. Das ist die eigentliche Lektion jedes künstlich auferlegten Wettbewerbs und auch der Schule: du lernst, wo dein Platz ist. 


Das dritte Fach: Gleichgültigkeit 

Ich lehre Kinder, sich nicht allzu sehr für irgendetwas zu begeistern, selbst wenn sie den Anschein erwecken sollten. Ich tue das auf sehr raffinierte Weise, indem ich fordere, dass sie sich in meinen Unterrichtsstunden bedingungslos engagieren, vor Begeisterung von den Plätzen springen und eifrig miteinander um meine Gunst konkurrieren. Aber wenn die Pausenglocke läutet, bestehe ich darauf, dass sie alles, was wir getan haben, augenblicklich stehen und liegen lassen und schnell zur nächsten Arbeitsstation weitergehen. Sie müssen sich wie ein Lichtschalter an- und ausschalten lassen. Nichts Wichtiges wird in meiner oder irgendeiner anderen mir bekannten Unterrichtsstunde jemals zuende geführt. Die Schüler haben nie eine vollständige Erfahrung, außer der eines erfüllten Lehrplans. Die eigentliche Lektion der Pausenglocke ist, dass es keine Arbeit gibt, die es wert ist, zu Ende geführt zu werden. 


Das vierte Fach: Emotionale Abhängigkeit

Mit Fleißbienchen und Smileys, mit Lächeln und Stirnrunzeln, Auszeichnungen, Ehrungen und Strafen bringe ich den Kindern bei, ihren Willen der vorherbestimmten Befehlskette zu unterwerfen. Rechte können von jeder Autorität ohne Berufungsmöglichkeit gewährt oder verweigert werden. Als Lehrer greife ich in viele persönliche Entscheidungen ein, ich stelle eine Bewilligung für jene aus, die mir legitim erscheinen und setze für ein Verhalten, das meine Herrschaft bedroht, eine Bestrafung in Gang. Individualität ist eine Bedrohung für alle Klassifizierungssysteme. Und dies sind häufige Arten, wie Individualität sichtbar wird: Kinder stehlen sich für einen ungestörten Augenblick auf der Toilette davon, unter der Vorgabe sie müssten mal, oder sie verschwinden zu einem privaten Moment in die Pausenhalle unter dem Vorwand, sie hätten Durst und wollten etwas trinken. Ich weiß, dass das nicht stimmt, aber ich erlaube ihnen, mich zu „täuschen“, denn dies konditioniert sie darauf, sich von meiner Gunst abhängig zu machen. 

Das fünfte Fach: Intellektuelle Abhängikeit 

Gute Schüler warten darauf, dass ein Lehrer ihnen sagt, was sie tun sollen. Dies ist die wichtigste Lektion von allen: Wir müssen auf andere Menschen warten, die besser ausgebildet sind als wir, um unserem Leben einen Sinn zu geben. Die Experten treffen alle wichtigen Entscheidungen. Nur ich, der Lehrer, kann bestimmen, was meine Kinder lernen, beziehungsweise nur die Menschen, die mich bezahlen, können diese Entscheidungen treffen, die ich dann umsetze. Erfolgreiche Schüler übernehmen das Denken, das ich ihnen vorgebe, mit einem Minimum an Widerstand und dezenten Anzeichen von Begeisterung. Schlechte Schüler kämpfen dagegen natürlich an, obwohl ihnen die Begriffe dafür fehlen, zu erkennen, wogegen sie kämpfen. Sie kämpfen, um selbst zu unterscheiden, was sie lernen und wann sie es lernen.Brave Leute warten auf einen Experten, der ihnen sagt, was zu tun ist. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass unsere gesamte Wirtschaft davon abhängt, dass diese Lektion gelernt wurde. Wir haben ein Leben aufgebaut, das auf Menschen angewiesen ist, die tun, was man ihnen sagt, weil sie nicht wissen, wie sie sich selbst sagen können, was sie tun sollen. 

Das sechste Fach: Labiles Selbstbewusstsein

Ein Zeugnis, eindrucksvoll in seiner scheinbaren Vorläufigkeit, wird zu den Schülern nach Hause geschickt, um Beifall hervorzurufen oder anzugeben, wie unzufrieden die Eltern mit dem Kind sein sollten. Die Ökologie von guter Beschulung hängt von fortgesetzter Unzufriedenheit ab, demselben Dünger, auf den die freie Marktwirtschaft angewiesen ist. Obwohl manche Menschen vielleicht überrascht sind, wie wenig Reflexionszeit dafür aufgewendet wird, diese mathematisch genauen Zensuren zu erstellen, dokumentiert das sich anhäufende Gewicht dieser scheinbar objektiven Berichte  ein Profil, das Kinder zu bestimmten Entscheidungen über sich selbst treibt, und ihre Zukunft basiert auf dem zufälligen Urteil von Fremden. Selbsteinschätzung, der Grundstoff jedes bedeutenden philosophischen Systems, das jemals auf dem Planeten in Erscheinung getreten ist, wird nie als Faktor in Betracht gezogen. Die Lektion von Beurteilungen, Zensuren und Testergebnissen liegt darin, dass Kinder nicht sich selbst oder ihren Eltern trauen sollten, sondern sich stattdessen auf die Auswertung bevollmächtigter Beamter verlassen. Den Menschen muss gesagt werden, was sie wert sind. 

Das siebte Fach: Man kann sich nicht verstecken

Ich lehre die Schüler, dass sie immer unter Beobachtung stehen und immer überwacht werden, dass jeder von ihnen unter beständiger Beobachtung durch mich und meine Kollegen steht. Es gibt keine Privatsphäre für Kinder, es gibt keine private Zeit. Der Wechsel von einer Unterrichtsstunde zur nächsten dauert exakt dreihundert Sekunden, um die promiskuitive Verbrüderung auf einem niedrigen Level zu halten. Ich entwickle eine Art erweiterter Beschulung, die so genannten Hausaufgaben, so dass die Wirkung der Überwachung, wenn schon nicht die Überwachung selbst, sich bis in den privaten Haushalt erstreckt, wo die Schüler sonst ihre freie Zeit nutzen könnten, um etwas zu lernen, was nicht autorisiert ist, zum Beispiel von den Eltern, durch eigenes Erkunden oder durch Kontakt mit einer kompetenten Person in der Nachbarschaft. 


Schlusswort 

Es ist der große Triumph der staatsmonopolistischen Massenpflichtbeschuliung, dass sich selbst unter den besten meiner Lehrerkollegen und unter den besten der Eltern meiner Schüler nur sehr wenige vorstellen können, die Dinge auf eine andere Art zu tun. „Die Kinder müssen doch wissen, wie man liest und schreibt, oder?“ „Sie müssen doch addieren und subtrahieren lernen, oder?“ Die Wahrheit ist, dass Lesen, Schreiben und Rechnen in nur ungefähr hundert Stunden vermittelt werden können, wenn die Klientel eifrig und lernwillig ist. Der Trick besteht darin, zu warten, bis jemand fragt und dann schnell voranzugehen, solange diese Neugierde anhält. Millionen von Menschen bringen sich diese Dinge selbst bei – es ist wirklich nicht besonders schwer. Der beständige Ruf nach dem Üben von „Grundkenntnissen“ ist eine Nebelwand, hinter der die Schulen zwölf Jahre lang die Zeit der Kinder beschlagnahmen und ihnen die unsichtbaren Lektionen beibringen, die ich Ihnen gerade beschrieben habe. 

Das alles ist nicht unausweichlich. Dies alles kann überwunden werden. Wir haben Wahlmöglichkeiten, wie wir junge Menschen aufwachsen lassen können: Es gibt nicht nur einen richtigen Weg. Wenn wir die Macht der pyramidalen Illusion durchbrechen würden, wären wir in der Lage, das zu erkennen. Es gibt keinen internationalen Wettbewerb auf Leben und Tod, der die Existenz unseres Landes bedroht – so schwierig es auch angesichts der beständigen gegenteiligen Medienberieselung ist, diese Tatsache zu denken, geschweige denn, sie zu glauben. 



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